«Hörst du das? Das sind unsere Schritte. Unglaublich, oder?» Ja, in der Tat: unglaublich. Es ist acht Uhr abends mitten in Venedig, und das Einzige, was wir hören, ist der Klang unserer Schuhe auf dem Pflaster. Dies in einer Stadt mit 30 Millionen Touristen im Jahr. Kurz zuvor noch bahnten wir uns den Weg durch regenschirmbewehrte Pauschalreisegruppen, bedrohliche Selfiesticks, aggressive Taubenschwärme und geschäftsbereite Gondolieri. Doch dann, als hätte jemand mit den Fingern geschnippt, ist der Spuk plötzlich vorbei. Die Gassen sind wie leergefegt, die untergehende Sonne taucht die Fassaden in rosafarbenes Licht, und wir fühlen uns allein auf der Welt. Allein mit der morbiden, bizarren, melancholischen, unvergänglichen Schönheit der Lagunenstadt. «Deswegen bekomme ich von Venedig nie genug», sagt Raffaele Boscaini.
Acht Stunden zuvor. Wir treffen Raffaele, Marketingdirektor des Amarone-Hauses Masi, welches seine Familie in sechster und siebter Generation führt, in der Hotellegende Gritti Palace. Hier hat man zwei Terrassenoptionen, die teure und die günstige. Erstere heisst: Suite mit Dachterrasse für rund 10'000 Euro pro Nacht. Wir dürfen zehn Minuten rauf – und es verschlägt uns glatt den Atem. Der Blick schweift über den Canal Grande, die verschachtelten Dächer der Stadt, die glitzernden Wasser der Lagune und die Kuppel der schneeweissen Basilica Santa Maria della Salute im Morgenlicht. Teuer? Nein, unbezahlbar. Die Alternative für Normalsterbliche – also für uns nach Ablauf der besagten zehn Minuten – ist die Restaurantterrasse direkt am Kanal. Dort schaukeln Gondeln am Quai, voll bepackte Motorboote flitzen vorbei, und die Möwen schielen begehrlich auf unsere frisch gebackenen Cornetti.
Ach ja, dürfen wir vorstellen: die Crew. Wir sind in Italien, da hat man’s gern gesellig! Der fröhliche Trupp für den Tag besteht aus Raffaele, seiner rechten Hand Elisa, sowie Masis zwei Venedig-Agenten Vittorio und Antonio. Die Kellerei Masi liegt bei Verona im Valpolicella, doch mit Venedig verbindet sie eine lange Geschichte. «Schon im 18. Jahrhundert wurden unsere Weine von hier aus per Fass verschifft», erzählt Raffaele. Und noch heute ist «La Serenissima», wie die Stadt nach dem früheren Namen der Republik Venedig liebevoll genannt wird, ein wichtiger Markt.
Raffaele Boscaini: «Schon im 18. Jahrhundert wurden unsere Weine von Venedig aus per Fass verschifft.»
In diesem Hotel ist alles echt und alles antik: jeder Teppich, jedes Gemälde, jedes Möbelstück. Tipp: die geselligen Kochkurse in der Gritti Epicurean School.
Campo Santa Maria del Giglio
+39 041 794611
grittipalace.grandluxuryhotels.com
Andenken: Maurizio Figuccio, Director of Food & Beverage im Gritti Palace, zeigt eine signierte Masi-Flasche.
Apropos Markt! Wir trinken unseren Kaffee aus und eilen los. Die Truppe schnattert fröhlich vor sich hin. Es ist organisiertes Chaos: Irgendeiner fällt immer zurück oder ist am «telefonino». Als Erstes wollen wir sehen, wo die Einheimischen einkaufen. La Barca heisst das Gemüseboot an der Ponte dei Pugni, der «Brücke der Fäuste», wo sich früher zwei rivalisierende Familien jedes Jahr rituell so lange prügelten, bis der Verlierer ins Wasser fiel. Raffaele, ein passionierter Koch, hat derweil nur Augen fürs junge Gemüse: Artischocken, deren zarte Böden der Händler in Rekordzeit aus ihrer stacheligen Hülle schält, «carletti», zarte Blättchen mit dem Geschmack von jungen Erbsli – «perfekt für ein Omelett», sagt Elisa und steckt einen Bund in ihre Handtasche – oder rosa Radicchio aus dem Veneto. «Schmeckt fantastisch aus dem Ofen mit Olivenöl, Balsamico und Parmesan», so Raffaele.
Das Marktboot, dem die Einheimischen vertrauen. Die Gemüse sind auf Venezianisch beschriftet, alten Damen wird über die Brücke geholfen, die Artischocken gibt’s küchenfertig. Sympathisch!
Sestiere Dorsoduro, 2898
+39 041 5222977
Hier trifft man praktisch nur Veneziani, darunter viele Studenten der nahen Universität Ca’ Foscari. Über 50 Weine glasweise.
Ui, elf Uhr! Höchste Zeit für «un’ombra», einen Schatten. So nennen die Venezianer das Gläschen Wein vor dem Mittagessen. Oder dem Abendessen. Oder zwischendurch. Vittorio ist schon in der Bar nebenan verschwunden. Er wurde in Venedig geboren, hat sein ganzes Leben lang hier gelebt und kennt offenkundig die ganze Stadt. Als wir eintreten, stehen in der Osteria ai Pugni jedenfalls schon die Cicchetti, die Häppchen, auf der Bar. Masis Campofiorin, der kleine Bruder des Amarone, verträgt sich bestens mit geräucherter Burrata und Sardellen, und unsere Gruppe wächst schlagartig um ein halbes Dutzend Einheimische. Raffaele schmunzelt. «Weisst du, die Venezianer fahren fast nie mit dem Boot, sie laufen überallhin. Und weil die Brücken den Weg vorgeben, kreuzt man automatisch immer dieselben Bekannten. Daher auch die Tradition der Bacaros, der Trinkstuben: Man hält an und schwatzt. Zum Glück muss man nachher nicht mehr Auto fahren – im schlimmsten Fall fällt man in den Kanal! Allerdings dauert der Heimweg so leicht mal eine Stunde statt zehn Minuten.»
Fondamenta Gherardini, 2836
+39 346 9607785
Venedig ist eine Stadt, die ihre Juwelen zwischen Tand versteckt. Hätte Raffaele uns nicht hineingelotst, wären wir am Atelier Pietro Longhi ganz sicher vorbeigegangen. Von aussen sieht der kleine Laden aus wie ein weiteres Maskengeschäft. Doch innen tut sich eine Schatztruhe auf: Masken, inspiriert vom Carnavale und der Commedia dell’Arte, bezogen mit Samt und Seide, geschmückt mit Hahnenfedern, Blattgold, Glaskristall und Trockenblumen. Alles handgefertigt aus italienischen Materialen. Venedig hat jede Menge solch geheimer Adressen. Aber wie findet man sie? Raffaele hat einen Tipp. «Guck mal, siehst du den Mann dahinten? Er hat den ‹Gazzettino di Venezia›, die lokale Tageszeitung, unter dem Arm. Lauf ihm einfach nach. Wenn er in eine Bar geht, ist das ganz sicher keine Touristenfalle.»
Wunderschöne handgemachte Masken, auch Sonderanfertigungen auf Bestellung möglich. Kostenpunkt: zwischen 50 und 500 Euro. Das sind sie wert.
Calle Seconda dei Saoneri, 2608
+39 041 714478
pietrolonghi.com
Frisch, frischer, alla Madonna! Bessere Meeresfrüchte werden Sie schwer finden. Unbedingt versuchen: die rohen Scampi.
Calle della Madonna, 594
+39 041 5223824
ristoranteallamadonna.com
«Granseola», Seespinne, eine der Spezialitäten des Hauses.
Ein Favorit der Veneziani ist die Trattoria alla Madonna. Dunkle Balken, Wandteller auf grobem Rauputz, die Kellner in schlecht sitzenden weissen Jacken – wir fühlen uns sofort wohl. Seit 1954 liegt das Lokal in den Händen derselben Familie. Ihre Spezialität: Fisch und Meeresfrüchte. Und was für welche! «Granseola», Seespinne, mit dem Rogen vermischt und im eigenen Panzer serviert, rohe Scampi, die im Gaumen zergehen, «uova di seppia», zarter Tintenfischrogen. Und natürlich «sarde in saor», eine urvenezianische Spezialität: sauer eingelegte Sardinen mit Zwiebeln, Rosinen und Pinienkernen. Zu all dem passt Masis Frescaripa, ein frischer, straffer Bardolino, verblüffend gut. Übrigens: Das waren erst die Antipasti. Danach kommen Spaghetti aglio olio mit Crevetten, dann ein Meeresfrüchterisotto, das so gut ist, dass Elisa spontan ihre Mutter anrufen muss. Und nun wäre eigentlich der Hauptgang dran. Ein ganzer Fisch. Schweren Herzens kapitulieren wir. Der Kellner schaut erst ungläubig, dann mitleidig. «Anfänger», denkt er sich wohl.
Jetzt Kaffee! Nachdem wir Vittorio und An - tonio aus der Küche der Trattoria alla Ma - donna losgeeist haben, nehmen wir Kurs aufs Caffè Florian, der Institution am Markusplatz. Gerne wird berichtet, dass der Espresso hier zweistellig kostet. Was keiner erzählt, ist, dass man denselben Kaffee drinnen an der Bar wie die Stammgäste für drei Euro bekommt. Mit Blick auf das Interieur aus Ebenholz, Carrara-Marmor und 24-Karat-Blattgold. Im Florian ent - stand, dank Koffein und der ersten Gas - lampen der Stadt, die älteste Zeitung Ve - nedigs. Seit 1720 wird hier Kaffee serviert. Selbst als 1966 das Hochwasser, «acqua alta», auf 1,90 Meter stieg, ging der Service weiter. «Für Venezianer ist und bleibt das Florian ein Leuchtturm», sagt Raffaele.
Auf dem Markusplatz zahlt man 6,50 Euro für den Espresso und nochmal sechs für die Musik.
Einfacher Tipp: Trinken Sie ihn an der Bar! Dort herrschen ganz normale Preise. Nicht umsonst kommen viele Venezianer täglich her.
Piazza San Marco, 57
+39 041 5205641
caffeflorian.com
Unsere nächste Station ist eine ganz besondere: Squero di San Trovaso, die letzte Gondelwerkstatt im historischen Stadtzentrum. Eigentlich hat hier niemand Zutritt. Auch fotografieren dürfen wir auf keinen Fall, doch der Besuch brennt sich in unser Gedächtnis ein. Während Vater und Sohn schweigend arbeiten, erklärt uns die Tochter das Handwerk. Aus sieben verschiedenen Hölzern besteht eine Gondel, sie wird auf einem hundert Jahre alten Gerüst ohne Bauplan nur aus dem Kopf gebaut. 500 Kilo wiegt so ein Boot und hält circa 40 Jahre. Einst durchkreuzten 10'000 Gondeln die 175 Kanäle der Stadt, heute sind es noch 500. Es sind lebende Zeitzeugen. Die Handwerkerfamilie, die sie fertigt und pflegt, könnte ein Vermögen mit Eintrittsgeldern machen. Stattdessen macht sie einfach ihre Arbeit. «Das ist das wahre Venedig», sagt Vittorio sichtlich ergriffen. «Es ist gemacht aus Fleiss, aus Schweiss, aus Opfern. So ein junges Mädchen könnte rausgehen in die Welt, jeden Abend Party machen. Stattdessen bleibt sie hier und führt die Tradition fort.»
Gruppen werden mit viel Glück auf vorherige Anfrage kurz reingelassen, ansonsten ist der Zutritt unmöglich. Riskieren Sie einen Blick von der anderen Seite des Kanals.
Fondamenta Bonlini, 1097
squerosantrovaso.com
Über Venedig geht langsam die Sonne unter. Zeit für «un’ombra», oder? Wir laufen vorbei an verborgenen Gärten, durch mannsenge Gassen, das Licht färbt sich rosa. Im nächsten Lokal, so verspricht Raffaele, gibt’s die besten Cicchetti der Stadt. Die Wette gilt! El Magazen gewinnt sie mit Leber-Crostini, eingelegten Miesmuscheln und «baccalà mantecato», würziger Stockfischcreme auf Polenta. Wir müssen an uns halten, uns nicht sattzuessen. Denn gleich ist ja Nachtessen!
Beliebt in Venedigs Cicchetti-Bars: Masis Campofiorin.
El Magazen: Moderne Weinbar mit warmem Schummerlicht, perfekt für den abendlichen Apéro. Oder machen Sie eine Mahlzeit draus: Die Cicchetti sind sagenhaft!
Calle Larga Giacinto Gallina, 5402
+39 041 3022600
Antico Martini heisst unser letzter Stopp für den Tag. Wir tauchen ein in die warme Atmosphäre des Lokals, gleich beim Opernhaus La Fenice. Kellner Giancarlo empfängt uns wie alte Bekannte. Seit 41 Jahren kümmert er sich hier um das Wohl der Gäste. Und er geniert sich auch nicht, Tipps zu geben. So wie: «Den Fisch servieren wir mit Zitrone, aber besser ist er ohne.» Raffaele erklärt uns, für Venezianer bedeute der Gebrauch von Zitrone, dass der Fisch nicht mehr ganz auf der Höhe war. «Es wäre also fast eine Beleidigung, hier nach der Zitrone zu greifen.» Wir brauchen sie definitiv nicht. Der Fisch ist offenbar frisch aus dem Meer gesprungen, der Valpolicella Monte Piazzo hüllt ihn und uns angenehm ein. Der Tag wirkt nach. Wir sind zwölf Kilometer gelaufen. Haben kein einziges Boot genommen. Und durften ein Venedig erleben, von dessen Existenz wir bis dato nichts ahnten. Vor dem Restaurant verabschieden wir uns von Raffaele und seiner herzlichen Entourage. Ihre Schritte hallen noch lange nach.
Gediegene Adresse für ein Nachtessen vor oder nach dem Opernbesuch: Das Opernhaus La Fenice liegt am selben Platz.
Campo Teatro Fenice, 2007
+39 041 5224121
anticomartini.com
Elegantes, aber nicht überkandideltes Hotel im Herzen Venedigs, eingekuschelt ins Gassengewirr zwischen Rialtobrücke und Markusplatz. Luxus in menschlicher Dimension.
San Marco Mercerie, 760
+39 041 5200755
starhotelscollezione.com
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