Auf der Flasche steht einfach nur «Vino». Und auch das nur auf dem Rückenlabel. Das Frontetikett ist ein weisses Quadrat mit einem kreisrunden Guckfenster, welches bei Licht einen winzigen Einblick in die Flasche gewährt. Ein Wein ohne Namen? «Dieser Wein braucht Erklärung», sagt Luca Formentini. «Daher habe ich ihn schlicht und einfach Vino genannt.» Ein Wein, der vom Dialog lebt, also. Passend, wenn man bedenkt, dass auch die Idee für diesen Tropfen im Gespräch entstand. Und das war so: Auf Selva Capuzza, dem Weingut in der Lombardei, welches die Familie Formentini seit über hundert Jahren pfl egt, wird Nachhaltigkeit grossgeschrieben. Schon lange setzt man keine Herbizide mehr ein, 15 Prozent der Fläche sind für die Erhaltung der Biodiversität reserviert, das Regenwasser wird gesammelt – um nur wenige Beispiele zu nennen. «Da war es nur logisch, dass irgendwann ein Kunde fragte: Macht ihr auch ‹low-intervention wines›, also Weine mit minimalem Eingriff ?», sagt Luca. Also habe ich es probiert.»
Wiederbelebt: In den alten Tanks von Luca Formentinis Grossvater reift heute wieder Wein.
Luca Formentini
Weingut Selva Capuzza
Er presste Turbiana-Trauben aus alten Rebbergen, vergor sie und liess sie rund ein Jahr lang ohne weiteres Zutun im Zementtank seines Grossvaters ruhen. Das Behältnis hatte er eigens für diesen Zweck restauriert. «Mein Vater ist ausgebildeter Önologe, er sah die ganze Sache sehr, sehr skeptisch», lacht Luca. Doch das erste Ergebnis aus dem Jahrgang 2019 steht strahlend im Glas: lebendig, expressiv, komplex. «Ich wollte einen anderen Weg fi nden, den Charakter und das Terroir unserer Trauben auszudrücken. Und tatsächlich schmecke ich im Vino ganz neue Nuancen der Turbiana. Die Fruchtaromen sind vielschichtiger, die Textur ist locker gewoben wie Leinen. Dieser Wein erweitert mein Vokabular.» Die Reise hat Luca Formentini ohne Vorbereitung begonnen. «Ich gehe gerne auf meine eigene Art an Dinge heran. Neben dem Wein bin ich auch Musiker, ich komme aus der Improvisation. Dort ist die erste, unvoreingenommene Begegnung mit einem anderen Musiker unersetzbar. Genauso wollte ich mich diesem Wein nähern.» Bis er das erste Resultat, den Vino 2019, auf den Markt brachte, vergingen fast zwei Jahre. «Erst musste ich ihn selber verstehen. Während dieser Zeit habe ich ihn immer wieder probiert und mich jedes Mal gefragt: Werde ich dich würdig vertreten können?» Jetzt ist das Experiment auf der Welt. Und Luca sagt: «Jeder Wein aus unserem Sortiment belegt einen Punkt auf der Landkarte. Mit dem Vino ist unsere Landkarte grösser geworden.»
Spontan vergoren und rund ein Jahr ungestört in Grossvaters Zementtank gereift. Ohne Schwefelzusatz abgefüllt. Helle Bernstein farbe. In der Nase Quitte, getrocknete Aprikose, Heublumen, sehr expressiv, schon ein Touch Oxidation. Am Gaumen extrem frische Säure, viel Schmelz, ausdrucksvolle Frucht. Zu Fritto misto mit Knobli-Mayo!
Eine Familie, für die das Experimentieren fast ein Way of Life ist, sind die Lageders, Biodynamie-Pioniere in Südtirol. Auf die Frage, wie viele Tests und Mikrovinifikationen sie im Jahr unternehmen, lacht Helena Lageder. «Ach, bestimmt über hundert», sagt sie. Die spannendsten Versuche bekommt auch der Weinfreund zu schmecken. Sie kommen als Kometen in den Verkauf. «Ein Komet ist etwas Einzigartiges», erklärt Helena, «er taucht auf und verschwindet wieder. So ist es auch mit diesen Weinen.» Auf das Etikett jeder Flasche ist ein Kometenschweif mit dem Finger aufgemalt. Wohlgemerkt: «Es handelt es sich nicht unbedingt um unsere besten Weine. Es geht um Mut, etwas auszuprobieren, was auch komplett schiefgehen kann.» Da wären etwa uralte Rebsorten wie der Versoaln, ein maischevergorener Silvaner oder ein Gewürztraminer aus dem Akazienfass. «Manchmal schiessen wir auch komplett übers Ziel hinaus», sagt Helena gelassen.
Doch ab und zu schaffen es Kometen ins reguläre Sortiment. Der Porer etwa: «Er war ursprünglich ein Experiment.» Für diesen körperreichen, straffen, würzigen Pinot grigio wird ein Teil der Trauben rund ein Jahr lang auf der Maische, also mit Schalen und Stielen vergoren. «Unsere Stilistik sind frische, vertikale Weine mit Struktur. Früher sorgte dafür die Säure. Doch hier in Südtirol spüren wir schon lange den Klimawandel. Unsere Kellerei in Margreid liegt auf 230 Metern über dem Meer, vor hundert Jahren wuchsen hier Riesling und
Weissburgunder, heute stehen diese Sorten auf bis zu 900 Metern. Wie also erhalten wir die Frische und Spannung in den Weinen auf natürliche Weise? Wir können in die Höhe gehen, wir können auf säurebetontere Sorten ausweichen – oder wir haben eine dritte Möglichkeit: Schalenkontakt. Die phenolische Säure aus den Stängeln gibt den Weinen Struktur und Spannung. Und: es ist ein Weg, die ganze Traube in den Prozess der Weinwerdung einzubeziehen.» Die Methode ist nicht neu, präzisiert Helena Lageder. «Früher wurden die Trauben mit Ochsen oder Pferden einmal am Tag angeliefert. Da die Tiere im Weinberg mehrere Stunden unterwegs waren, blieb der Most lange in Kontakt mit den Schalen. Wir haben das Rad nicht neu erfunden. Wir waren einfach neugierig, was zum Vorschein kommt.»
Helena Lageder
Weingut Alois Lageder
Ein Teil der Trauben wurde sofort gepresst, ein weiterer Teil blieb für 15 Stunden in Kontakt mit den Schalen, ein dritter Teil ruhte rund ein Jahr auf der Maische. Strohgelb mit rötlichen Refl exen. Reife gelbe Frucht, Lindenblüte, Honig, viel Würze und Mineralität. Im Gaumen kraftvoll und trocken mit Schmelz und Rückgrat. Sehr aromatisches Finale, ein Hauch Anis. Kann’s mit Fisch und weissem Fleisch.
Alois Lageder, Alto Adige
Schmeckt ein Silvaner noch nach Silvaner, wenn er mehrere Wochen auf der ganzen Traube vinifiziert wurde, oder verliert er seine Typizität? Lageders Premiere in Sachen sortenreiner Silvaner, aus Trauben von einem 60- jährigen Rebberg im Eisacktal. Spannend!
Die Kometenweine von Lageder sind streng limitiert und nur in unseren Vinotecas erhältlich.
Spanische Tonamphoren im Keller von Foradori.
Sehen, was zum Vorschein kommt, das war auch der Anreiz für Elisabetta Foradori, Biodynamie-Vorreiterin des Trentino, als sie begann, die Nosiola-Traube aus der heute weltberühmten Lage Fontanasanta mit Schalenkontakt zu keltern. In den 1990er Jahren war die Rebsorte fast ausgestorben, es gab nur noch rund 50 Hektar. «Modern gekeltert ist die Nosiola ein Aschenputtel, sehr neutral, fast schon langweilig», sagt Elisabettas Sohn Emilio Zierock, welcher heute für die Weine verantwortlich zeichnet. «Meine Mutter fragte sich, wie ihr wahrer Charakter aussieht.» Also baute sie den Wein auf der Maische aus. Und plötzlich entfaltete sich das Aschenputtel zu einem ungeahnt duftigen, fein gewobenen Tropfen mit Frische und Struktur, welcher einmalig sein Terroir ausdrückt. «Önologisch war das natürlich ein Sprung ins kalte Wasser », sagt Emilio. Nicht nur der monatelange Maischekontakt, sondern auch die Wahl der Behälter. «Meine Mutter suchte nach einem Gefäss, dass Sauerstoff kontakt ermöglicht, aber selber keinen geschmacklichen Einfl uss auf den Wein nimmt», so Emilio. Ihre Wahl fi el auf Tinajas, spanische Tonamphoren. Und ihr Ansatz hiess «Ganz oder gar nicht». Emilio Zierock: «Sie legte gleich ab dem ersten Jahr die gesamte Nosiola- Ernte in Amphoren. Es hätte mich nicht erstaunt, wäre die Hälfte wegoxidiert.» Doch das Gegenteil war der Fall. Die Weine waren klar, frisch, delikat. Klar, erfordert diese Art des Weinmachens vom Winzer eine andere Präsenz. «Es ist nicht ‹Deckel drauf, tschüss, wir sehen uns im Frühjahr›. Wir begleiten unsere Weine. Es ist ein ständiges Beisammensein.» Heute geniessen bei Foradori sämtliche Weissweine mehr oder weniger langen Schalenkontakt, und die Amphoren, welche seit 2010 auch den roten Teroldego beherbergen, sind so etwas wie das Markenzeichen der Familie geworden. So ist das eben mit Experimenten: Die Revolution von heute ist die Normalität von morgen.
Acht Monate auf der Maische ausgebaut, ruhte in Tonamphoren und Akazienfässern. Duftet nach Pfirsich, Blüten, Zitrus, Stein. Am Gaumen feingliedrig und doch strukturiert, lebendige Säure – und gegen Ende plötzlich ein erstaunlicher Druck. Probieren Sie ihn zu Sushi!
Emilio Zierock
Weingut Foradori
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