Osteria delle Delizie, 12.30 Uhr. Das kleine Restaurant, in dem wir Winzer Michele Bernetti treffen, liegt direkt am Dorfplatz von Moie. Wobei, eigentlich ist da nicht viel mehr als eine Hauptstrasse, ein paar Häuser, ein Fluss. Kurz, ein italienisches Kaff in Mittelitalien. «Wir kommen oft fürs Mittagessen her, denn die Osteria liegt eigentlich immer am Weg.» Am Weg? Michele Bernetti lacht und deutet aus dem Fenster. «Dieses Tal mit dem Fluss Esino teilt das Verdicchio-Gebiet von Jesi in Süden und Norden. Und an den Hängen stehen unsere Reben. Sieben Weinberge, sieben Lagen.» Auf der linken Flussseite etwa liegt Umani Ronchis Cru-Lage Le Busche, auf der rechten Torre. Die ganze Weinregion umfasst 25 Gemeinden und besitzt seit 1968 doc-Status, seit 2020 docg für die Riservas. Kerngebiet sind die Lagen in der Nähe des Flusses. «In Jesi selbst wird kein Wein produziert, denn die Stadt liegt im Tal. Aber in den Hügeln, da wird Spitzenwein gemacht.»
Michele Bernetti könnte jeden Tag Verdicchio trinken – und tut es vielleicht auch.
Michele Bernetti ist Kopf der renommierten Familienkellerei und Herr über 210 Hektar Reben in den Marken und Abruzzen – allesamt biologisch bewirtschaftet. Das Büro teilt er sich mit seinem Papa Massimo, er ist auch mit 87 Jahren noch jeden Tag auf Platz. 2015 wurde Michele Bernetti anlässlich der Expo in Mailand zum Botschafter der Weine der Marken in der Welt ernannt. 2020 stand die Cantina als eine der 34 besten Kellereien Italiens auf der Topliste des Wine Spectators. Und eine der grossen Spezialitäten der Familie Bernetti ist, ja exakt: Verdicchio.
«Ich liebe Verdicchio für seine mineralische, herzhafte, leicht salzige Seite, für seine Eleganz. Er hat Charakter, Persönlichkeit. » Der Wein sei so etwas wie der König der Region Marken und unbestritten einer der grössten Weissweine Italiens, sagt Michele Bernetti. Wichtig für ihn als Unternehmer, klar, aber auch ganz persönlich. «Ich mag keine Weissweine, die zu aromatisch sind. Ich mag diese trockenen, nervösen Weine.» Und während Michele schwärmt, tauchen wir am Tisch kulinarisch ein in seine Heimat Marche, eine Region mitten im Herzen Italiens und doch immer etwas übersehen neben der übermächtigen Nachbarin Toskana. Der Chef der Osteria serviert Crescia di pane, Fladenbrot aus Mais- und Weizenmehl, dazu Pecorino und Wurst. Michele erklärt: «Crescia ist eine lokale Spezialität, ganz typisch, jede Ortschaft hat ihr eigenes Rezept. Und diese Wurst hier heisst Ciauscolo, eine Art Salami, aber weich und streichfähig. Hatte ich schon erwähnt, dass der Capo im hinteren Teil seiner Osteria eine fantastische Salumeria betreibt?»
Zum Essen trinkt man in der Osteria Verdicchio. Wir und alle anderen Gäste im Lokal. Ehrensache. «Unser Casal di Serra bringt für mich den ganzen Wert und die Typizität der Traube zum Ausdruck», sagt Michele und schenkt einen grosszügigen Schluck nach. Ein historischer Wein – für Umani Ronchi, aber auch für die Gegend: Die Familie Bernetti keltert den Classico Superiore seit 1983. «Classico, weil er aus der Kernzone von Castelli di Jesi stammt. Und Superiore, weil von den besten Lagen innerhalb der Denomination.» Casal di Serra duftet nach Apfel, Pfirsich und Wildblumen, herrlich frisch, wunderbar mineralisch. Hefekontakt während der Gärung und in der Reifephase verleiht ihm Körper und Eleganz. Der perfekte Kontrast zum deftigen Antipasto. Und auch zum Hauptgang Baccalà – Stockfisch mit Tomaten – hält der Casal di Serra mühelos mit.
Der Name Verdicchio kommt von den hellgrünen Reflexen der Beeren, die «verde» bleiben, selbst wenn sie voll ausgereift sind. Die Traube ist ein Urgestein der Marken. Die Rebe wird bereits in historischen Quellen aus dem 16. und 17. Jahrhundert genannt. Und gemäss Rebengenetik-Koryphäe Professor Attilia Scienza, erzählt Michele, «sind die Marken wohl der Ursprungsort, auch wenn Verdicchio wahrscheinlich nicht hier geboren, sondern einige Jahrhunderte zuvor von Bauernfamilien hergebracht worden ist». Spannend: DNA-Analysen in den letzten Jahren haben gezeigt, dass der in den Marken angebaute Verdicchio fast identisch ist mit dem Trebbiano di Lugana ist, den man vom Gardasee kennt.
Offroad im Defender.
In den Marken prägt nicht der See, sondern das Meer das Terroir. 20 Kilometer sind es vom Verdicchio-Gebiet bis zur Küste. Die Reben wachsen zwischen Apennin und Adria, im hügeligen Hinterland von Ancona, der Haupt- und Hafenstadt der Marken. Der höchste Verdicchio-Rebberg der Familie Bernetti liegt auf 400 Metern. Dank der Höhenlage und dem Einfluss des Meers bleiben die Nächte – auch in einem heissen Sommer wie 2022 – schön kühl. «Das ist wichtig für die aromatische Entwicklung der Trauben und die Säurestruktur.» Die wiederum ist besonders relevant, wenn es um die Lagerung geht. Michele gibt dem Wein zehn Jahre und mehr, je nach Stil. «Auch wenn wir ihn oft jung trinken: Verdicchio ist ein Wein, der sehr gut altert.»
In Castelbellino liegt einem die ganze Verdicchio-Welt zu Füssen.
Die Geschichte von Umani Ronchi beginnt in den späten 1950er Jahren, als Gino Umani Ronchi im Hinterland von Ancona einen kleinen Bauernbetrieb gründet. Einige Jahre später übernimmt die Familie Bianchi-Bernetti und wandelt ihn 1968 in eine Weinkellerei um. Die Verwaltung zieht nach Osimo um (wo Umani Ronchi noch heute den Rotwein bereitet), der weisse Verdicchio wird im Herzen des Anbaugebiets (so schreiben es die Weingesetze vor) gekeltert, genauer bei Castelbellino.
Dort stehen wir nun satt und glücklich auf dem Dorfplatz – der Capo hatte uns nicht ohne einen Schluck hausgemachten Vi di Visciola (das ist ein gefährlich süsser Sauerkirschwein) gehen lassen. Castelbellino thront auf einer Hügelkuppe und macht seinem Namen «das hübsche Schlösschen» alle Ehre. «Die Burg stammt aus dem Mittelalter, und von hier oben geniesst man einen fantastischen Weitblick», schwärmt Michele. Vor uns öffnet sich das Esino-Tal, dazwischen sanfte Hügel und in der Ferne die Adria.
«Zu Jesi gehören gut 20 namensgebende Castelli, Castelbellino ist eines davon. Hier leben vielleicht noch hundert Leute.» Doch die Städtchen, die aussehen wie kleine Burgen, hätten ein überraschend aktives Kulturleben. Es gebe in jedem Castello ein Theater, ganz klein, 40 Sitzplätze vielleicht. «Und weisst du was? Gioachino Rossini wurde hier geboren!» Der Opernkomponist? «Ja, genau, der!»
Castelbellino ist eines der namensgebenden Castelli von Jesi.
Wir wechseln wieder die Talseite und fahren zu Le Busche. Zu Micheles Herzensprojekt. «Schau, diese Pflanzen sind älter als ich – und sie können noch viele Jahre so weitermachen!» Michele Bernetti tätschelt liebevoll einen knorrigen Rebstock. «2001 wollten wir den gesamten Weinberg neu anlegen. Doch weil diese Pflanzen immer die besten Trauben lieferten, entschieden wir, den Rebberg zu restaurieren statt auszureissen. » Inzwischen sind die Vecchie Vigne, die alten Reben, um die 60 Jahre alt. «Bereits in den 1970er Jahren hatte mein Papa das Produktionspotenzial und den qualitativen Wert dieser Lage vorausgesehen.» Heute ist Le Busche eine der ganz grossen Lagen des gesamten Castelli-di-Jesi-Gebiets, «ein bisschen wie ein Cru, auch wenn es die Klassifizierung in Italien nicht gibt – noch nicht». Und: Le Busche war der erste Weinberg, den Umani Ronchi biozertifizieren liess.
Le Busche ist eine der ganz grossen Lagen des Verdicchio-Gebiets.
Wäre die Sicht klar, man könnte am Horizont die Adriaküste sehen. Doch auch ohne Fernsicht bringt das Meer Frische – und belüftet den Rebberg. Die Umwelt hier sei sehr gesund, die Artenvielfalt gross und die alten Reben wurzeln tief in die Lehmböden, drei bis vier Meter. So finden sie selbst in sehr heissen Jahren genügend Wasser, das macht stark und widerstandsfähig.
Michele Bernetti tätschelt liebevoll einen knorrigen Rebstock.
Vecchie Vigne ist ein Erfolg. Der «Cru» ist für Umani Ronchi zu einem der wichtigsten Vorzeigeweine geworden. 2001 kam der erste Jahrgang auf den Markt, heute überbieten sich die grossen Weinkritiker regelmässig mit Bestnoten. «In den ersten drei, vier Jahren haben wir aus heutiger Sicht fast zu spät geerntet, wir wollten Konzentration haben. Inzwischen versuchen wir, mehr in Richtung Finesse zu gehen. Eleganz statt Kraft. Mehr Tiefe, mehr Säure. » Es sei natürlich eine Frage des Trends, aber auch der Erfahrung. «Wir haben viel experimentiert, mit Ausbau, Erntezeitpunkt. Jetzt werden die Trauben früher gelesen, um diese schweren Komponenten wie viel Alkohol zu vermeiden.» Auch darum kommen Umani Ronchis Verdicchio- Weine ohne Holz aus – mit einer Ausnahme: «Da es sich beim Verdicchio um eine nicht aromatische Traube handelt, leidet sie gewöhnlich etwas unter dem Holz. Aber wenn man gut arbeitet und nicht mit zu süsser Eiche, verleiht sie meiner Meinung nach auch viel Eleganz.» Plenio gärt und reift zu 40 Prozent in grossen Holzfässern, die «minim getoastet» werden, und dankt es mit Fülle, rauchigen Noten und reifer Steinfrucht. Übrigens, die Trauben für den Plenio wachsen wiederum am rechten Ufer, in der Lage Torre. Und der Weg dorthin führt über – genau, Moie. Michele hatte recht, die Osteria liegt immer am Weg.
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