Zwei Löwen empfangen uns am wohl schönsten Aussichtspunkt von Ancona. Steil unter uns die Bucht, der Fährhafen, ein Häusermeer aus Sandstein. Die Morgensonne taucht die ganze Stadt in goldenes Licht, ein riesiges Kreuzfahrtschiff läuft in den Hafen ein. «Hier wurde Ancona geboren», sagt Michele Bernetti und blinzelt in den Morgen. Wir stehen mit dem Winzer und CEO der Traditionskellerei Umani Ronchi auf dem Vorplatz des Duomo, ein Ort wie ein Adlerhorst, fast komplett von Wasser umgeben. «Ancona ist meine Stadt. Ich mag die Nähe zum Meer. Und dass Ancona dank des Hafens schon immer weltoffen war.» Ein magischer Ort – für Michele und wohl auch für die Griechen, die die Hafenstadt 390 v. Chr. errichtet hatten. Ihr Name soll von «ancon», griechisch für Ellenbogen, kommen – der Form der Bucht geschuldet. Noch heute gibt es direkte Fährverbindungen nach Patras oder Korfu. «Hier, wo wir stehen, erbauten die Griechen ein paar Häuser und einen kleinen Tempel, auf dessen Ruinen die Römer später ein Amphitheater errichteten. Die heutige katholische Kathedrale wurde x-mal zerstört und wiederaufgebaut.» Und die Löwen aus Stein? «Ach, die sind auch schon ewig hier und so etwas wie das heimliche Wahrzeichen der Stadt.» Michele tätschelt dem steinernen Tier liebevoll den Kopf. «Jedes Kind aus Ancona hat schon auf seinem Rücken gesessen. Ich inklusive.»
Blickt man vom Domhügel Richtung Sonnenaufgang, Richtung Osten, erhebt sich die Steilküste des Monte Conero aus dem Meer. Doch Moment, ist die Adriaküste nicht flach wie eine Scholle? Michele lacht. «Der Conero ist mit seinen gut 500 Metern die einzige Erhebung an der Adria zwischen Venedig und Apulien. Und dort unten befinden sich die Grotten von Ancona. Vielleicht unser bestgehütetes Geheimnis. Andiamo!»
Die Steinlöwen von Ancona sind das heimliche Wahrzeichen der Stadt.
Von hier oben geniesst man einen fantastischen Blick auf die Stadt, aufs weite Meer und die einlaufenden Schiffe. Che bellezza!
Piazzale del Duomo 9, Ancona
Runter zum Meer führt eine monumentale Steintreppe mit Säulengeländer. Che bellezza! «Siehst du», sagt Michele und deutet nach links, «dort oben beim Dom standen wir eben. Und das hier sind die Strände der Stadt.» Dies ist der Ort, wo ganz Ancona schwimmen geht. Als Kind sei er oft mit Freunden hier gewesen. Und heute gebe es keinen besseren Platz für einen Aperitivo. «Eine kühle Flasche Wein und gute Gesellschaft – mehr braucht es nicht. Und übrigens», fügt er an, «dies ist, glaube ich, der einzige Ort in Italien, wo die Sonne im Meer aufgeht und ins Meer wieder untertaucht.»
Bei uns hat der Tag eben erst begonnen. Möwen kreischen am Himmel, ansonsten ist noch nicht viel los hier. Doch später, im Sommer oder an den Wochenenden, sind die warmen Steinplatten am Wasser übervoll mit sonnenhungrigen Stadtbewohnern. Hinter ihnen in den nackten Fels geschlagen: die Grotten am Passetto-Strand. «Die ältesten Höhlen sind über hundert Jahre alt. Früher gehörten sie den Fischern, heute nutzen die Leute sie wie Strandkabinen.
Die Grotten sind in den letzten Jahren zu einem Luxus geworden, denn die Lage direkt am Wasser ist unschlagbar!» Die Anconetani verbringen hier den ganzen Tag, grillieren, baden, abends essen sie mit den Nachbarn, treffen Freunde, Gemeinschaftsleben all’italiana. Verschlossen sind die Steinhöhlen mit windschiefen farbigen Holztoren, mehr Verschläge als Türen, und durch die Holzlatten lässt sich da und dort ein Blick erhaschen ins Innere. Es riecht nach Keller, nach feuchtem Stein. Im Winter muss es dort drin kalt und ungemütlich sein. Doch der Winter in Ancona ist kurz – zum Glück! Michele zeigt aufs Meer. «Schau, draussen bei den Felsen fischen sie Austern.» Obwohl er als Winzer fest mit der Erde verbunden ist, das Element Wasser übt auf ihn eine grosse Faszination aus. «Wir Anconetani sind mit dem Meer aufgewachsen. Ich fahre regelmässig raus zum Angeln. Und früher bin ich leidenschaftlich und viel Wasserski gefahren. Ich war sogar mal Skilehrer!» Ja, die Adria ist so was wie die DNA der Bewohner von Ancona. Auch in kulinarischer Hinsicht.
Früher Fischerhäuschen, heute nostalgische Strandkabinen. Die Höhlen am Passeto-Strand haben eine unschlagbare Lage. Hier verbringt ganz Ancona die Sommertage.
Piazza IV Novembre, Ancona
(und dann die Treppe runter ans Meer)
Die Geschichte von Umani Ronchi beginnt 1957, als Gino Umani Ronchi einen kleinen Bauernbetrieb im Hinterland von Ancona gründet. Ein paar Jahre später übernehmen Roberto Bianchi und sein Schwiegersohn Massimo Bernetti – und wandeln den Betrieb 1968 in eine Weinkellerei um. Heute gehört Umani Ronchi unter der Leitung von Michele Bernetti zur Elite im schmalen Spitzensegment der Marken. Die Reben (zu den 180 Hektar Rebland in den Marken kamen 2001 30 Hektar in den benachbarten Abruzzen dazu) werden biologisch bewirtschaftet.
Azienda Vinicola Umani Ronchi Spa
Via Adriatica 12, Osimo
> mehr Infos zum Produzenten
Die Auslage des Chiosco di Morena liest sich wie eine Enzyklopädie der lokalen Meeresdelikatessen. Austern, Muscheln in den verschiedensten Farben und Formen, Seeschnecken, Tintenfisch und Stoccafisso – Stockfisch. «Das ist unser Streetfood!» Michele nickt dem hippen jungen Mann zu, der hinter dem Tresen auf geschätzten zwei Quadratmetern das Angebot für den Mittag vorbereitet. Das Mini-Verkaufshäuschen ist eine Institution – und einer der letzten authentischen Meeresfrüchtekioske in Ancona. «Der beste Ort für Fangfrisches oder ein Glas zum Apéro. Abends kriegst du hier kaum einen Platz!» Und was muss man unbedingt probiert haben? «Tutto!» Michele lacht. «Zu unseren Spezialitäten in Ancona gehören Muscheln von Portonovo, Meeresschnecken und Austern, die sind hier wirklich ganz frisch!»
Frischer Fisch auf die Hand: Der Meeresfrüchte- Kiosk in der Altstadt von Ancona ist eine Institution.
Corso Giuseppe Mazzini 61, Ancona
Dass es den Kiosk überhaupt noch gibt, ist den Besitzern des Delikatessengeschäfts vis-à-vis zu verdanken. Sie retteten die alternde Streetfood-Institution vor dem Aus und hauchten ihr neues Leben ein. «Das war für die Leute aus Ancona so was wie ein Dienst am Gemeinwohl.» Michele schmunzelt. Wir wechseln rüber zu Bontà delle Marche – und kommen kulinarisch vom Wasser an Land. Das Geschäft ist bis zur Decke voll mit Würsten, Schinken, Käse. Hinter der Theke wirbeln drei Jungs herum. «Gabriele Capannelli eröffnete das Geschäft 1997 mithilfe seines Vaters Dario. Wir kennen uns schon lange – auch weil sie oben in der Weinhandlung und im angeschlossenen Restaurant unsere Weine verkaufen. Und bei Bontà gibt es wirklich alles und das Beste von allem. Drei Dinge müsst ihr probieren: Ciauscolo, Pecorino di Fossa und Paccasassi.»
Ciauscolo ist eine Art Salami, aber weich und streichfähig. Pecorino di Fossa ist kein gewöhnlicher Schafskäse, sondern reift in Baumwollsäckchen tief unter der Erde, was ihm ein unglaublich intensives Aroma beschert. «Die Tradition stammt aus dem Mittelalter, als man die Essensvorräte vor Plünderungen schützen musste und in Steingruben versteckte», erklärt einer der Mitarbeiter und reicht ein Glas mit eingemachtem dunkelgrünen Gemüse, das aussieht wie flache Dörrbohnen: Paccasassi. «Das ist wilder Meeresfenchel, er wächst auf den Felsen der Conero-Küste und erinnert geschmacklich an irgendwas zwischen Algen und Kapern», erklärt Michele.
«Paccasassi sind reich an Vitamin C, weshalb sie die Seeleute früher nicht nur als Delikatesse, sondern auch als Mittel gegen Skorbut schätzten. Wir essen Paccasassi traditionell zu Burrata oder auf Pizza und Crostini.» Langsam kriegen wir Hunger.
Geschmacklich irgendwas zwischen Algen und Kapern: Paccasassi.
In diesem Delikatessengeschäft gibt’s alle Spezialitäten der Marche. Auch wenn’s nicht so aussieht: nicht nur Wurst und Schinken.
Corso Giuseppe Mazzini 96, Ancona
bontadellemarche.it
Fürs Mittagessen hat Michele einen Tisch bei Giacchetti in Portonovo reserviert. Sein Lieblingsrestaurant, direkt am Meer. Auf dem Weg zum Auto schauen wir für ein kurzes Ciao noch rasch in der Pescheria Cipolloni rein, wo Capo Claudio seelenruhig von Hand die feinen Gräten aus den Sardellen löst, die danach «sott’olio» eingemacht werden. Sisyphusarbeit, aber ganz ohne Grund gilt die Pescheria nicht als einer der besten Fischläden der Stadt. Und nicht nur uns gefällt’s hier, sondern ganz offensichtlich auch dem Hund der Kundin nach uns: Zur Begrüssung gibt’s für den Goldie ein paar frische Fischlein.
Einer der besten Fischläden der Stadt. Sardellen sott’olio werden hier vom Capo höchstpersönlich eingelegt.
Via degli Orefici 3, Ancona
Portonovo liegt 20 Autominuten ausserhalb von Ancona, eine atemberaubend schöne ruhige Bucht am Hang des Monte Conero. Die Strasse führt durch üppig grüne Vegetation, die Gegend ist seit den 1980er Jahren als Parco Naturale geschützt. «Ich hänge sehr an diesem Ort», erzählt Michele Bernetti, «ich habe viele schöne Kindheitserinnerungen und komme bis heute oft und gerne her.» Auch wegen des Ristorante da Giacchetti, direkt am Strand. Weisse Kieselsteine kontrastieren mit dem karibischen Blau der Adria, ein Traum. «Am schönsten ist es hier im Sommer am Abend. Dann nehmen sie die Sonnenschirme rein und stellen die Restauranttische nach draussen an den Strand. Die Stimmung bei Kerzenlicht ist fantastisch ...»
Fantastisch sind auch die Speisen, die Edoardo, dritte Giacchetti-Generation, auftischt. Gegründet wurde das Restaurant 1959 von den beiden Brüdern und Fischern Aroldo und Dario Giacchetti. Als Primo gibt’s marinierte Sardellen mit Paccasassi (kennen wir schon aus dem Delikatessengeschäft) und die berühmten Moscioli aus Portonovo. «Das sind Miesmuscheln, die in den Felsenspalten des Monte Conero wachsen, etwa auf Höhe Meeresspiegel und somit immer sanft umspült vom Salzwasser. » Moscioli sind die grosse Spezialität der Region und im Gegensatz zu Cozze werden sie gefischt und nicht gezüchtet. Die Saison dauert von April bis Oktober, «dann ist das Muschelfischen unser aller liebste Freizeitbeschäftigung!» Micheles Augen leuchten. Zum Essen trinken wir Vecchie Vigne, Umani Ronchis Verdicchio-Cru aus alten Reben, im Stahltank gereift und x- fach ausgezeichnet. Gambero Rosso kürte den 2009er sogar als «Vino Bianco Italiano dell’Anno» – nur weiss das ausserhalb von Italien kaum einer. Vecchie Vigne ist feingliedrig, mineralisch, sehr präsent, mit toller Länge und fast schon salzigem Abgang. «Mein Herzensprojekt, wir arbeiten mit 60 Jahre alten Reben. Der Wein ist zu einem unserer wichtigsten Vorzeigeweine geworden.»
Zu Pasta und Fritto misto (so delikat, wir würden dafür um die Welt gehen!) gibt’s ebenfalls Verdicchio, diesmal aber in der Variante mit etwas Holzeinfluss: Plenio. Der Wein ist füllig und gleichzeitig herrlich frisch, und auch hier grüsst die Adria mit einer feinen Salznote. «Der Name leitet sich vom lateinischen Plenum ab, ein Hinweis auf die Komplexität und Struktur unserer Riserva.» Der Wein reift zur Hälfte in grossen Holzfässern. «Wir haben über die letzten Jahre den Holzanteil stark reduziert und verwenden heute Eiche mit einer akzentuierten Röstung, aber weniger süss.» Burgunderfan Michele Bernetti sucht im Wein vor allem eines: Eleganz. Und das ist ihm ganz offensichtlich gelungen, finden nicht nur wir: Der Gambero Rosso krönte Plenio 2020 mit der Höchstnote von drei Gläsern!
Zu Pasta und Fritto misto (so delikat, wir würden dafür um die Welt gehen!) gibt’s ebenfalls Verdicchio, diesmal aber in der Variante mit etwas Holzeinfluss: Plenio. Der Wein ist füllig und gleichzeitig herrlich frisch, und auch hier grüsst die Adria mit einer feinen Salznote. «Der Name leitet sich vom lateinischen Plenum ab, ein Hinweis auf die Komplexität und Struktur unserer Riserva.» Der Wein reift zur Hälfte in grossen Holzfässern. «Wir haben über die letzten Jahre den Holzanteil stark reduziert und verwenden heute Eiche mit einer akzentuierten Röstung, aber weniger süss.» Burgunderfan Michele Bernetti sucht im Wein vor allem eines: Eleganz. Und das ist ihm ganz offensichtlich gelungen, finden nicht nur wir: Der Gambero Rosso krönte Plenio 2020 mit der Höchstnote von drei Gläsern!
Michele Bernettis Lieblingsrestaurant direkt am Meer. Hier gibt's die berühmten Moscioli aus Portonovo.
Località Portonovo 171, Ancona
ristorantedagiacchetti.it
Und weil Italien nicht Italien wäre, wenn sich nicht alles ums Essen drehen würde, sind wir – nach einer kurzen Verdauungspause – zum Abendessen in Umani Ronchis Weinbistro verabredet. WineNot? heisst das Lokal am Hafen von Ancona, und oben im historischen Palazzo warten im familieneigenen Grand Hotel Palace 39 Boutique-Zimmer auf müde Gäste. «Das Gebäude stammt aus dem 16. Jahrhundert, das Hotel ist seit 1868 in Betrieb. Wir haben es komplett renoviert und 2017 neu eröffnet.» Küchenchef Leonardo Castaldi hat sich – damit die Gäste möglichst viele Speisen-Wein-Kombinationen probieren können – Fingerfood auf Gourmet-Level verschrieben. Oder Shottini, wie die Anconitani ihre Häppchen nennen. Einer der Klassiker, im WineNot? und in den Marken überhaupt, sind Olive Ascolane: mit Fleisch gefüllte grüne Oliven, paniert und frittiert. Köstlich! Ebenfalls typisch Marken sind Raguse in porchetta, Meeresschnecken. «Eine traditionelle Spezialität der Provinz Ancona und vor allem der Riviera del Conero. Der Name ‹in porchetta› kommt daher, weil wir in der Sauce wilden Fenchel verwenden, der klassischerweise auch Spanferkel oder eben ‹porchetta› den typischen Geschmack gibt», erklärt Küchenchef
Leonardo. Und was trinkt man zu den Raguse, Michele Bernetti? «Ich mag dazu unseren Montepulciano-Cru Cúmaro.» Die Trauben für die dunkelfruchtige Riserva wachsen in Bernettis besten Rosso-del-Conero-Lagen in Meeresnähe. Der Wein ist üppig und weich, reife Pflaume trifft auf Sauerkirsche, Tabak auf schwarzen Pfeffer. Benannt ist der sortenreine Montepulciano nach dem Erdbeerbaum, der typisch ist für die Wälder des Monte Conero. Die feuerroten Früchte des Baums sind essbar und haben es als stilisierte rote Punkte aufs Cúmaro- Etikett geschafft. Der Name des Weins stammt übrigens aus dem Griechischen: komaros. Nun, da wären sie wieder, die Griechen ...
Grand Hotel und Weinbar der Winzerfamilie Bernetti. Nach dem letzten Schluck kann man direkt ins Bett fallen.
Lungomare Luigi Vanvitelli 24, Ancona grandhotelpalaceancona.com
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